Warum Europa an seiner eigenen digitalen Unabhängigkeit scheitert

Eine Betrachtung über politische Versäumnisse, inkonsequente Verwaltungen und den Preis unserer Bequemlichkeit
In einer Zeit, in der Datenschutz, digitale Souveränität und geopolitische Unabhängigkeit zu strategischen Imperativen geworden sind, wirkt es paradox: Europa verfügt über leistungsfähige, datenschutzkonforme Alternativen zu den Produkten von Meta, Alphabet oder Microsoft – nutzt sie aber kaum. Stattdessen dominieren weiterhin US-amerikanische Plattformen wie Google, WhatsApp, Instagram und Microsoft Teams den Alltag von Unternehmen, Bildungseinrichtungen und Behörden. Die Gründe dafür liegen nicht primär in der Technik – sondern in der Politik. Und zwar auf allen Ebenen.
Kontrolle statt Vision
Auf europäischer Ebene hat man sich lange Zeit mit der Rolle des Regulators zufrieden gegeben. Die Einführung der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) war ein Meilenstein, aber zugleich auch das symbolträchtige Eingeständnis: Wir haben keine eigenen Plattformen, also kontrollieren wir wenigstens die fremden.
Dabei mangelte es nie an Erkenntnis über die strategische Relevanz digitaler Souveränität – sondern an Vision, Mut und einer kohärenten Industriepolitik. Während die Vereinigten Staaten mit massiven Investitionen und staatlich geförderten Ökosystemen Plattformunternehmen großzogen, überließ die EU die digitale Infrastruktur weitgehend dem freien Markt. Start-ups mit Plattformideen kämpfen bis heute mit einem fragmentierten Förderumfeld, ohne kritische Skaleneffekte und mit kaum vorhandener internationaler Sichtbarkeit.
Nationalstaaten: Digitale Selbstsabotage im Behördenalltag
Während Europa über Souveränität diskutiert, bestellen nationale Ministerien Microsoft-Lizenzen in Millionenhöhe und kommunizieren über US-Dienste. Schulen speichern Daten auf Google-Servern, Verwaltungen nutzen WhatsApp-Gruppen, und Videokonferenzen werden über Zoom geführt – auch dort, wo deutsche oder europäische Lösungen längst existieren.
Diese Praxis ist nicht nur widersprüchlich, sie ist politisch fahrlässig. Denn wenn der Staat selbst nicht vorlebt, was er in Leitlinien und Strategiedokumenten fordert, verliert er jede Glaubwürdigkeit. Der Rückgriff auf US-Lösungen wird oft mit Pragmatismus begründet – tatsächlich ist es politisches Kurzdenken, das langfristige digitale Handlungsfähigkeit verspielt.
Kommunen: Alleingelassen im Strukturwandel
Gerade auf kommunaler Ebene zeigt sich das strukturelle Versagen besonders deutlich. Viele Gemeinden wollen datenschutzkonform arbeiten, stoßen aber auf fehlende Beratung, zu wenig Schulungsangebote und rechtliche Unsicherheit. Selbst wenn der Wille zur Umstellung vorhanden ist, fehlt es an zentralen Leitlinien, Best-Practice-Beispielen und technischer Unterstützung durch Länder oder Bund.
Gleichzeitig ist der Handlungsdruck hoch. Schulen, Kindergärten, Pflegeeinrichtungen und Bauhöfe brauchen digitale Lösungen – schnell, günstig und intuitiv. In diesem Spannungsfeld fällt die Wahl oft auf das, was „schon alle nutzen“. Der kurzfristige Vorteil der Vertrautheit wiegt schwerer als die langfristigen Vorteile der Unabhängigkeit.
Bequemlichkeit schlägt Überzeugung
Neben politischen Versäumnissen spielt auch die menschliche Natur eine Rolle. Digitale Alternativen wie Threema, Nextcloud oder Mastodon erfordern Veränderung. Sie funktionieren anders, erfordern neue Prozesse, manchmal neue Denkweisen. Das allein reicht aus, um viele Organisationen abzuschrecken – besonders in verwaltungsgeprägten Strukturen mit hohen Sicherheits- und Stabilitätsansprüchen.
Der Bequemlichkeit der Gegenwart steht die Überzeugung der Zukunft gegenüber. Doch ohne politischen Druck und strukturelle Anreize setzen sich neue, nachhaltigere Lösungen nicht durch. Freiwilligkeit allein reicht nicht.
Was jetzt geschehen muss
Wenn Europa digitale Souveränität wirklich will, muss es diese aktiv gestalten – nicht nur regulieren. Dazu braucht es nicht noch mehr Förderprojekte mit hohem Verwaltungsaufwand, sondern eine klare, ambitionierte politische Strategie:
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Öffentliche Stellen müssen verpflichtet werden, vorrangig europäische und DSGVO-konforme Dienste zu nutzen.
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Es braucht verbindliche Open-Source-Richtlinien für die öffentliche Verwaltung.
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Kommunen benötigen zentrale Unterstützung, Schulungen und juristisch geprüfte Vorlagen zur schnellen Umsetzung.
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Und nicht zuletzt müssen europäische Alternativen gezielt sichtbar gemacht, vermarktet und politisch gefördert werden – nicht als Nischenlösungen, sondern als strategische Infrastruktur.
Ein Kontinent zwischen Erkenntnis und Ohnmacht
Europa erkennt die Risiken digitaler Abhängigkeit – aber es handelt zu zögerlich. Es gibt keine technische Notwendigkeit mehr, von US-Plattformen abhängig zu bleiben. Was fehlt, ist der politische Wille, diesen Wandel aktiv herbeizuführen – und ihn mit klarer Kommunikation, konsequenter Vorbildfunktion und echtem Investitionsmut zu begleiten.
Solange Europa in seiner digitalen Politik zwischen Regulierung und Ohnmacht pendelt, bleibt die digitale Unabhängigkeit ein schöner Gedanke. Doch Gedanken allein verändern keine Systeme.