Drei Lektionen: Wege zum Boss-freien Unternehmen – Gastbeitrag
Endlich über das Chef-Ethos hinausdenken!
von Timm Urschinger*
Immer wieder in der Kritik: UnternehmerInnen, Chefs und Chefinnen. Zurecht?! Und wie schlimm ist es wirklich? Eine GoodHire-Umfrage[1] aus dem Jahr 2022 zeichnet ein düsteres Bild: Zweiundachtzig Prozent der Befragten gaben an, dass sie wegen eines miserablen Chefs kündigen würden. Derselbe Prozentsatz von Mitarbeitenden gab an, dass sie ihre Arbeit auch ohne jegliche Aufsicht erledigen könnten. Die Zahlen sind aus Amerika, aber vielleicht ist es auch hier an der Zeit, dass wir sie endlich lassen.
Sich von traditionellen Hierarchien verabschieden? Über eine neue Art der Führung nachdenken? Wenn die Idee eines Unternehmens ohne Chefs für Sie absurd klingt, haben Sie wahrscheinlich noch nie von den Prinzipien der Teal-Führung gehört. Der ehemalige McKinsey & Co.-Mitarbeiter Frederic Laloux hat sie in „Reinventing Organizations“[2] ebenso ausführlich beschrieben wie anhand zahlreicher Beispiele dokumentiert. Der Teal-Rahmen basiert auf drei Säulen: evolutionärer Sinn, Ganzheitlichkeit und Selbstmanagement. Teal-Unternehmen folgen einem dienenden, bewussten und zugleich dezentralen Führungsstil, der nicht auf Hierarchie, Status oder formaler Macht basiert. Stattdessen treibt Selbstführung auf der Grundlage von Fluidität, Vertrauen und Erfahrung ein Teal-Unternehmen voran. Ein Paradebeispiel dafür ist Morning Star. Mit einem Anteil von mehr als 25 Prozent an der kalifornischen Tomatenproduktion, hat das globale Kraftpaket erhebliche Fortschritte (und ebensolche Schlagzeilen) gemacht. Ein wesentlicher Grund dafür ist Teal: Im Unternehmen, das vollständig durch Selbstmanagement gesteuert wird, berichten die Mitarbeitenden nicht an Vorgesetzte, sondern einander. Das Ergebnis ist nicht nur eine beachtliche Rentabilität.[3] Es gibt natürlich auch zahlreiche Beispiele im deutschsprachigen Raum wie die Gutmann Aluminium Draht GmbH (GAD), einer der führenden deutschen Anbieter gezogener Alu-Runddrähte, -Rund- und -Profilstangen. Spannend zu lesen der Beitrag „Eine Produktionsstätte ohne Hierarchie und mit Mitarbeitern, die ihre Arbeitszeit selbst bestimmen“ auf Corporate Rebels.[4] Oder die soziokratisch arbeitende Grolman Group, einem in der fünften Generation geführten Familienunternehmen für den internationalen Vertrieb von Produkten der Spezialchemie mit Firmensitz in Neuss.[5]
Neue Wege – neue Lektionen: Vorbereitung, Ressourcen und Mut!
Als wir bei LIVEsciences** diesen Stil einführten, lernten wir schnell, dass sich Teal-Organisationen erheblich von ihren Top-down-Gegenstücken unterscheiden. Statt einer Führung nach dem Prinzip „Zuhören und Gehorchen“, fühlen sich die Mitarbeitenden psychologisch sicher, selbst-verantwortlich und demzufolge befähigt, an der Entscheidungsfindung teilzunehmen. Da es keine Silos gibt, werden Transparenz und Innovation zur Norm. Wir haben festgestellt, dass unsere Mitarbeitenden mehr Ideen einbringen und mehr Risiken eingehen, was die Organisation in die Lage versetzt, sich schneller und besser weiterzuentwickeln. Zunächst hat sich für viele von uns, mich eingeschlossen, die Umstellung auf Teal natürlich ungewohnt angefühlt, weil Vieles einfach nicht mehr intuitiv ist. Die meisten Chefs und Chefinnen wie auch Mitarbeitenden sind mit Unternehmen vertraut, die auf pyramidenförmige Hierarchien und Prozesse setzen. Dennoch ist es uns gelungen, gemeinsam umzudenken und vollkommen neue, wenn auch nicht immer die einfachsten, Wege zu gehen. Hier sind nur einige der Lektionen, die ich in den letzten Jahren auf diesem Weg gelernt habe.
1. Es braucht Vorbereitung, um in einer anderen Funktion zu führen
Die Umstellung auf Teal stellt oft eine radikale Veränderung dar. Das Gute daran ist: Das Teal-Modell funktioniert, wie der Erfolg zahlreicher Unternehmen weltweit, darunter beispielsweise der amerikanische Outdoor-Bekleidungsspezialist Patagonia[6], aber auch unser eigener, beweist. Allerdings kann das Teal-Modell nicht erfolgreich sein, wenn Sie nicht zu 100 % dahinterstehen. Die Abschaffung der Besprechungen mit den direkten Vorgesetzten und die Änderung der traditionellen Hierarchie mögen sich anfangs unangenehm anfühlen. Mit der Zeit habe ich dieses Gefühl des Unbehagens jedoch verloren. Als die Mitarbeitenden sich der Idee öffneten und merkten, dass auch ihre Leistung sich steigerte, konnte ich in meiner neuen Führungsrolle einen Anstieg des organisatorischen Lernens, der Kreativität und der Produktivität beobachten.
Ich kann nur jedem, der sich auf diese Reise begeben will, empfehlen: Geben Sie sich die dafür notwendige Zeit und die Gelassenheit, dies ebenfalls zu tun, und überzeugen Sie sich selbst. Informieren Sie sich darüber, wie Teal-Organisationen aussehen und sich anfühlen. Danach können Sie sich persönlich leichter und besser darauf vorbereiten, in einer anderen Funktion zu führen. Für mich sah die Vorbereitung so aus, dass ich mir wichtige Fragen stellte: Was kann ich loslassen? Was will ich nicht loslassen, und warum nicht? Dann habe ich meine Antworten geprüft und meine Bedenken mit anderen besprochen.
Ein entscheidender Schritt für mich persönlich war es, mir der Wahrnehmung bewusst zu werden, die ich bei anderen erzeuge. Meine deutsche Direktheit zum Beispiel kann manchmal als streng oder fordernd empfunden werden, was nicht immer konstruktiv ist, wenn man versucht, sich von alten Führungsstrukturen zu lösen. Mir bewusst zu machen, wie andere auf meinen Tonfall oder meine Handlungen reagieren könnten, hat mir geholfen, mich auf die Teal-Führung einzulassen und einzustellen und dabei einige neue Fähigkeiten aufzubauen.
2. Es braucht Ressourcen, Coaches und Mentoren, um sich selbst zu reflektieren
Wenn Sie das Thema Teal nicht kennen oder noch nie erlebt haben, ist es eine große Hilfe, andere zu finden, die Sie beim Lernen unterstützen. Coaches und Mentoren waren auf meinem Weg zu einer Teal-Führungspersönlichkeit unglaublich wertvoll. Denken Sie daran: Wir sind keine Übermenschen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es immer einfacher ist, mit Hilfe anderer über sich selbst nachzudenken. Wenn ich versuche, ehrlich mit mir selbst zu sein und meine eigenen Vorurteile hinter mir zu lassen, ist es viel schwieriger, wenn ich alleine bin.
Menschen, die sich vor uns in ähnlichen Führungs- oder Übergangssituationen befunden haben, liefern uns oft die dringend benötigte Sicherheit und Bestätigung. Wenn Sie hören, dass jemand, den Sie respektieren, ebenfalls Bedenken hatte, als er oder sie in die Teal-Führung wechselte, dürfen Sie sich auch unwohl fühlen. Es hilft, Ihre Erwartungen und Bewältigungsstrategien anzupassen, um nicht nur sich selbst, sondern auch andere bestmöglich bei der Transformation zu unterstützen.
Je besser Sie also die Vorteile von Teal verstehen, desto besser können Sie anderen helfen, sie zu verstehen. Die meisten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen würden sich über mehr Autonomie, weniger Bürokratie und eine menschlichere Arbeitsatmosphäre freuen. Eine Gallup-Studie[7] aus dem Jahr 2022 zeigt, dass 58 % der Mitarbeitenden ihre einzigartigen Talente nutzen möchten. Teal kann Ihren Teammitgliedern diese wichtigen Möglichkeiten bieten, ihre Fähigkeiten zu erweitern.
3. Es braucht Mut, die internen Bewertungsinstrumente zu verändern
Wahrscheinlich haben Sie in Ihrem Unternehmen ein bewährtes Verfahren zur Beurteilung der derzeitigen Mitarbeitenden. Was passiert also, wenn Sie zu einem Unternehmen werden, in dem es keine Kontrollen von oder direkte Berichte an Vorgesetzte mehr gibt? Nun, die Beurteilungen, auf die Sie sich verlassen haben, wären dann nicht mehr notwendig. Der wahre Wendepunkt ist, wenn Sie herausfinden, dass herkömmliche Leistungsbeurteilungen zum Gegenteil von wertvollem Feedback führen.
Dementsprechend müssen Sie diese Beurteilungen durch eine beliebige Anzahl verschiedener Alternativen ersetzen, die innerhalb von Teal-Strukturen gedeihen. Ein Feedback auf Augenhöhe, beispielsweise durch einen Peer bzw. zwischen Kollegen/Kolleginnen, das nicht mit einer möglichen Strafe verbunden ist, macht es viel einfacher, ehrlich zu sein und sich gegenseitig dabei zu helfen, zu wachsen.
Da Teal-Unternehmen selbstgesteuert sind, ist diese Art der Rückmeldung ein wesentlicher Bestandteil des Prozesses. Regelmäßiges Feedback hilft dabei, ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, ob die Teammitglieder gut zusammenarbeiten und ihre Zusagen einhalten. Die Verfolgung der für Projekte aufgewendeten Zeit kann ebenfalls dazu beitragen, dass jeder weiß, was passiert und wie die Aufgaben erledigt werden.
Fazit: Die Umstellung eines Unternehmens auf eine nicht-traditionelle Struktur geht weder einfach noch schnell vonstatten – aber sie ist machbar. Um eine transformative Führungskraft in einer transformativen Organisation zu werden, müssen wir vor allem eines tun: über das Chef-Ethos hinausdenken. Dann jedoch finden wir mit Teal genau die Beweglichkeit, die gefehlt hat, um uns selbst und unsere Unternehmen auf die nächste Stufe zu heben. Und selbst wenn wir uns am Ende nicht ganz und gar für Teal entscheiden, werden die oben genannten drei Schritte Chefs und Chefinnen zweifellos helfen, mit ihren Unternehmen ein anderes, offeneres Level zu erreichen. Genau das ist es, was unsere Wirtschaft gerade so händeringend braucht, wollen wir aktuelle Herausforderungen, wie Fachkräftemangel, Quiet Quitting und Nachfolgeproblematik lösen, die Transformation zu einem nachhaltigen Unternehmen schaffen und uns generell zukunftsfähig und -sicher aufstellen. Es lebe das Boss-freie Unternehmen!
[1] https://www.goodhire.com/resources/articles/horrible-bosses-survey/
[2] https://www.reinventingorganizations.com/
[3] https://foodchainmagazine.com/news/morning-star-co/
[4] https://www.corporate-rebels.com/blog/guest-blog-gutmann
[6] https://reinventingorganizationswiki.com/de/cases/patagonia/
[7] https://www.gallup.com/workplace/389807/top-things-employees-next-job.aspx
Zum Autor:
* Timm Urschinger ist Mitgründer und CEO von LIVEsciences. Nach dem Studium sowie einigen Jahren bei einem bekannten Pharma-Konzern in der Schweiz und im Consulting beschloss er ein eigenes Unternehmen zu gründen. Seine Erfahrung im Management globaler Programme und Transformation hat in ihm die Leidenschaft geweckt, pragmatische und innovative Lösungen zu entwickeln – für das eigene Unternehmen und für Kunden. Neue Organisationsmodelle wie Teal spielen dabei eine ebenso große Rolle wie die Selbstführung und dass Menschen endlich wieder Sinn und Spaß im Berufsleben erfahren. https://www.livesciences.com
** LIVEsciences ist ein experimentierfreudiges Berater-Team, dessen Vision es ist, den Erfolg von Unternehmen und Organisationen zu katalysieren. Zentrale Bausteine sind das Potential der Menschen zu entfalten sowie Problemlösungstechniken zur Selbsthilfe. Das Ziel ist eine sich selbst organisierende Kultur als Basis für Innovation und Wachstum in einer sich schnell verändernden Welt. Namhafte Konzerne wie Roche, Siemens, Novartis, Bayer, Boehringer Ingelheim sowie beispielsweise auch die Basler Kantonalbank und die Schweizer Bundesbahn setzen bereits auf das Knowhow, die Erfahrungen und die Werte der Katalysatoren.
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